Wilhelm Schlau.

                                                  lm Ersten Weltkriege in RuBland

Den Ausbruch des Ersten Veltkrieges erlebten wir in Mitau, wo ich an der von der Ritterschaft unterhaltenen Landesschule unterichtete. Die Lage der Deutschen wurde schwieriger. Sowohl von der russischen als auch von der lettischen Seite gab es Anfeindungen, Verdachtigungen, Denunziationen. Beamte deutschen Volkstums wurden ihrer Amter enthoben, fuhrende deutsche Manner aus dem Randgebiet ausgewiesen. An die Stelle des Polizeimeisters Schnee trat ein Russe Morkotun. Unser Schulgebaude wurde vom Militar beschlagnahmt, die Klassen in Privathausern einzeln untergebracht.

Im Fruhjahr 1915 stieβen die deutschen Truppen bis kurz vor Mitau vor, wichen damn wieder zuruck. So wagten wir es, fur die Sommerfenen in mein Elternhaus, das Pastorat Salis im Kreise Wolmar, zu gehen. Unterdessen aber wurde Mitau besetzt und die Front verlief zwischen Mitau und Riga. Eine Heimkehr dorthin war nicht mehr moglich. Ich sah mich gezwungen, in Riga an Privatschulen Arbeit zu suchen. Die staatlichen Schulen waren evakuiert, die Schulverwaltung nach Dorpat. Ich war als Lehrer der Landesschule vom Mihtardienst befreit, jetzt aber wurden Lehrer, die in meiner Lage waren, aufgefordert, sich zum Wehrdienst zu stellen. Ich wurde vorlaufig zuruckgestellt und erhielt den Rat, mich nach einer Arbeit an einer staatlichen Schule umzusehen; beim nachsten Mai wurde ich eingezogen werden.

So wandte ich mich nach Dorpat und erhielt in der Kanzlei des Kurators vom Leiter der fruheren Schulverwaltung, Rutzky, meinem einstigen Klassenleiter am Stadtgymnasium in Riga, den Rat, mich nach Petrograd zu wenden. Dort gab es an den deutschen Kirchenschulen keine freien Stellen, und der Direktor der Reformierten Kirchenschule Brock gab mir eine Empfehlung an den Gehilfen des Kultusministers, den Grafen Raczinsky; dieser empfing mich sehr liebenswurdig und wies mich an den Gehilfen des Kurators des Petrograder Lehrbezirks Markow.

Ob in einem anderen Lande als hier im zaristischen Ruβland ein junger arbeitsuchender Lehrer ebenso liebenswiirdig und selbstverstandlich empfangen worden ware?? Markow machte mir 3 Angebote: zur Auswahl Archangelsk, Wilikij Ustjug und Beloosero. Ich rechnete damals schon mit der Moglichkeit einer Verschickung meines Vaters als Propst des Wolmarschen Sprengels. Da entschied ich mich im Einklang mit dem Rat von Markow fur Ustjug, da Beloosero zu nah im Westen lag und durch Archangelsk der Hauptverkehr Ruβlands mit seinen Verbundeten im Westen ging. So konnte nur Ustjug vielleicht fur meinen Vater als Verbannungsort in Frage kommen. Ustjug heiβt „Mundung des Jug», der in die Suchona mundet, die von da an die „Kleine Dwina» heiβt und bald darauf von Kotlas an zusammen mit der Wytschegda die Nordliche Dwina bildet, die bei Archangelsk ins Weiβe Meer flieβt.

Die Wahl erwies sich als richtig. In Petrograd war ich bei meinem Studienkameraden Friedrich von Dahl, Arzt am deutschen Alexander-Hospital, untergekommen. Unmittelbar vor meinem Aurbruch wurde mein Bruder Otto mit einem Teil der Rigaer Kommerzbank nach Petrograd evakuiert. Ich besuchte dort noch vor meiner Abreise den Vorsitzenden des Schulrates unserer Lahdesschule, den Graf en Paul Medem-Elley. Er bevollmachtigte mich, sollte ich vor ihm heimkehren, Dir. Hunnius mitzuteilen, daβ er mir die sofortige Wiedereiristellung an der Schule zugesichert babe; sollte er vor mir da sein, so werde er dafur sorgen.

Meine Reise ging bei starkem Frost liber Wologda bis Wjatka, wo ich den dorthin verschickten Baron Manteuffel-Katzdangen besuchte, und dann nordwarts in Richtung Kotlas bis zur Station Lusa.

Daft Baron Manteuffel deutsche Bauern aus Wolhynien auf seinen Gutern in Kurland angesiedelt hatte und als Bonner Borusse des deutschen Kaisers Corpsbruder war, bot naturlich Anlaβ fur seine Ausweisung. Er trug ungebrochen sein Los, bewegte sich, als ware er frei wie immer, machte dem Gouverneur einen Besuch, kummerte sich um die vielen dort untergebrachten reichsdeutschen Zivilgefangenen, veranstaltete Lesegottesdienste, vollzog Beerdigungen. Als meine Frau zwei Monate spater mit unserer kleinen Tochter mir nachreiste, hat er sic freundlich in Wjatka betreut.

Von Lusa waren 60 Werst bis Ustjug mit Bauern- oder Fuhrmannsschlitten zuruckzulegen. Zum Gluck hatte ich bei meiner Abreise einen schonen Fahrpelz aus dem Nachlaβ Alexander v. Pistohlkors-Koltzen geschenkt bekommen. Ich tat mich mit einem Mitreisenden aus Ustjug zusammen und kam in einem von ihm empfohlenen guten Gasthaus in Ustjug unter. Am nachsten Vormittag begab ich mich ins Gymnasium und stellte mich dem Direktor vor. Der Tag war schulfrei, denn die Kalte betrug minus 25 Grad Reaumur. Der Direktor Pomjalowsky empfing mich liebenswurdig. Er stammte aus Petrograd, wo sein Vater Dekan der historisch-philologischen Fakultat war. Er war in verhaltnismaβig jungen Jahren Staatsrat und trug den Wladimirorden 4. Kl., stand politisch rechts. Der Inspektor Poljsky war konstitutioneller Demokrat. Mit dem Slawisten und Historiker Basilewsky, einem Sozialdemokraten, habe ich in diesen Jahren am meisten geteilt. Erwalinen mochte ich noch den Sozialrevolutionar, Leiter der hoheren Elementarschule, Jakubow, und vor all em Theodor Heitmann, Absolventen einer Petersburger deutschen Ktrchenschule. Er hatte bis 1905 das Gymnasium geleitet, infolge der Schwierigkeiten in der Revolutionszeit die Leitung aufgegeben und war als I.ehrer an der Schule geblieben.

Es erwies sich, daβ wenig Stunden fur mich frei waren, die Besoldung sich nach der Stundenzahl errechnete, und ich als Deutscher wahrend der Kriegszeit auch nicht Klassenleiter sein durfte. Daher belief sich mein Gehalt anfangs auf 60 Rubel, wahrend ich 45 Rubel monatlich an Kostgeld aufbringen muβte. Das sah recht trube aus. Der Direktor nahm sich sehr freundlich der Fragemeiner Unterbringung an, schiekte einen Schuldiener herum. So kam ich in das saubere Einfamilienhaus mit Zentralheizung des Gesanglehrers Kostjamin, der im Hauptberuf Sekretar des Erzbischofs war, mit einer nahen Verwandten des Stadthauptes verheiratet. Seine beiden Sohne beeuchten das Gymnasium. So knupftcn sich Beziehungen zur Jugend und zur Gesellschaft an. Der alteste Sohn hieβ Prokopiy, zu Ehren des heiligen Prokopius, des Ortsheiligen deutscher Herkunft. Durch sein Gebet soil ein heraufziehender Steinregen von der Stack abgewandt worden und in einer Entfernung von etwa 20 Werst niedergegangen sein. Alljahrlich ging eine Prozession an seinem Jahrestage zum Steinacker hinaus.

Es war fur mich nicht leicht, in spannungsvoller Zeit diesen Postcn zu ubernehmen. Zum Gluck handelte es sich um eine Gegend fern vom Getnebe der Welt und ohne Chauvinismus. Dennoch gab es manche recht peinliche Situation, wie mir das gleich am zweiten Tage deutlich wurde. Es waren noch immer Frostferien. Der Direktor hatte mich zu sich bitten lassen, um mit mir die Stundenverteilung zu besprechen. Anwesend waren in der Kanzlei der Inspektor, der Kollege Basilewsky, der Sekretar und der Schreiber. Am Schluβ der Besprechung erklarte der Direktor, er habe eine Bitte an mich, deren Erfullung ich von vornherein zusagen sollte. Auf meine Erwiderung «wenn moglich, gerne» eroffnete er mir, die Schiiler hatten die Gewohnheit, den Lehrer mit Vor- und Vatersnamen anzuredcn. Nun fuhrte ich die z. Z. in Ruβland unpopularsten Namen: Wilhelm, siehe Kaiser Wilhelm, und Karls Sohn, siehe Kaiser Karl. Daraus konnten sich fatale Zwischenfalle ergeben. Er schluge mir vor, mich etwa Wassiliy Kirilowitsch zu nennen. Ich entgegnete, bei den ererbten Namen bleiben zu wollen und hoffte, die Schu¬ler waren gut erzogen, daβ sich hieraus keine Schwierigkeiten ergeben wurden. Man sah dem Direktor an, daβ diese Antwort ihm gegen den Strich ging, dennoch verbeugte er sich mit bittersuβem Lacheln, dankte fur mein gunstiges Vorurteil und meinte, trotzdem konne Verschiedenes passieren, aber mein Wunsch sei entscheidend. Ich hatte den Eindruck, etwas verschuttet zu haben. Als er mich am nachsten Morgen in die Arbeit einfuhrte, wandte ich mich auf der Treppe an ihn mit den Worten: „Herr Direktor», er unterbrach mich, er heiβe Michail Iwanowitsch. Also „Michael Iwanowitsch, nehmen Sie es mir nicht ubel, daβ ich Ihren wohlgemeinten Rat gestern nicht angenommen habe, aber ich habe mich oft uber Leute aufgehalten, die jetzt ihren deutschen Namen verleugneten» (ich dachte dabei besonders an den Prokureur der hl. Synode Gabler, der sich nach seiner Frau Dessjatowsky nannte), daβ ich mich schamen muβte, etwas Ahnliches zu tun». Darauf legte mir der Direktor die Hand auf die Schulter und sagte: „Golubtschik, (Taubchen) ich verstehe Sie vollkommen, Sie hatten darin einen Mangel an Civilcourage gesehen.» Ich habe mit dem Direktor nie einen Konflikt gehabt, bin von ihm immer zuvorkommend ritterlich, ja wohlwollend behandelt worden. Das Gesprach in der Kanzlei wurde im Kollegium und in der Stadt bekannt und hat mir nur Gutes eingebracht. Ich komme darauf noch zuruck.

Ich ubernahm Unterricht in Latein, Deutsch und alter Geschichte. Die Schuler waren willig, nicht schwer zu behandeln, brachten aber nicht viel mit. Das Gymnasium lag an der Suchona, uber die hin sich ein weiter Blick bot. Auf der Suchona gingen schone weiβe Raddampfer, ahnlich wie auf dem Rhein, bei hohem Wasserstande wurden sie ab Kotlas von kleineren Schiffen abgelost. Auβerdem bestand auf dem Flusse ein lebhafter Warenverkehr mit Schleppzugen. Die Stadt hatte 30 000 Einwohner, in ihrer Mitte befanden sich ein groβes Nonnen- und ein Manner-kloster, auβerhalb der Stadt noch 2 Nonnenkloster. In einem derselben, erzahlte man sich, verbringe die Groβfurstin Elisabeth, Witwe des ermordeten Groβfursten Sergey, Schwester der Kaiserin, ihren Lebensabend.

Die groβe Zahl der Kirchen erklarte sich daraus, daβ durch Ustjug — vor dem Bau der sibirischen Eisenbahn — eine belebte Handelsstraβe gefuhrt hatte und die wohlhabenden Kaufleute sich mit der Einrichtung eigener Kirchen uberboten hatten. Die Hauptkirche hatte eine besonders schone Glocke. Der erste Schnee fiel manchmal schon Ende August, aber bestimmt Ende September. Dann wurde die Schiffahrt eingestellt, denn der Fluβ fror bald zu. Wir haben Froste bis zu —43 Grad Reaumur erlebt. Ich kaufte mir ein Paar mit Rentierfellen beschlagene Schneeschuhe. Der Schnee lag oft so hoch, daβ die Pferde versanken, wenn ein Schlitten dem anderen von der festgefahrenen Spur ausweichen muβte. Bei windstillem Wetter spurte man auch scharfere Kalte wenig. Bei 26 Grad Reaumur habe ich zusammen mit einer schwedischen Krankenschwester, die an der kleinen Krankenstation der reichsdeutschen Zivilgefangenen tatig war, Hinimel sah man Kolkraben kreisen, horte weithin ihr „Krah, krah» oder „Krau, krau!!» Im Schnee sah man viele Wolfsspuren, die bis in die Stadt fuhrten. In einer Nacht batten Wolfe vor unserem Hause einen Hund gerissen.

Auch Baren kamen vor. Im Marz schmolz der Schnee bei Sonnenschein, und das Wasser floβ von den Dachern, und nachts gab es bis — 30 Grad Reaumur, so daβ man morgens uber den verharschten Schnee mit dem Schlitten fahren konnte. Bei solcher Witterung sollen Bauern auf Schneeschuhen Elche gejagt haben, die durch den Schnee brachen, bis sic ermattet nicht mehr weiter konnten. — Prachtig war der Eisgang. Den letzten Schnee haben wir einmal Ende Mai erlebt. Der Fruhling setzte dann mit Macht ein. Die Wiesen waren bald voller bluhender Trollblumen. Um die Sonnenwende war es kaum 2 Stunden dunkel. Ich habe damals noch kurz vor 23 Uhr eine Schnepfe geschossen. Riesige Scharen von Enten und Wildgansen zogen im Fruhling und Herbst durch. Obst gedieh nur an geschutztcn Stellen. Die Flora war nicht mannigfaltig, aber das Vorhandene bluhte in groβen Mengen. Auch an Pilzen und Beeren war der Wald reich. Eine besonders aromatische Beere, Polenika genannt, wuchs wie die Schellbeerc an feuchten Stellen.

Ich habe einmal eine Nacht mit dem Sohn des Apothekers Glaser an der Mundung des Jug in die Suchona verbracht, ohne daβ wir auf durchziehende Ganse zum Schuβ gekommcn waren. Einen tiefen Eindruck haben die Flusse in mir hinterlassen, namentlich im Gebiet von Kotlas, wo Suchona und Wytschegda sich vereinigen und im Fruhjahr bei Hochwasser weite Flachen uberschwemmt wurden.

Hier nahm ich also kurz vor Weihnachten 1915 meine Schularbeit auf. Schwierigkeiten mit den Schulern ergaben sich nicht. Ich mag auch Gluck gehabt haben. Als ich gleich anfangs einem Primaner eine gedruckte Ubersetzung aus dem lateinischen Text nahm, baten mich Vertreter der Klasse, den Vorfall weder dem Klassenleiter noch dem Direktor mitzuteilen. Ich ging darauf ein, da es die erste Bitte der Schiller ware. Die Folge davon war eine gewisse Courtoisie mir gegenuber. Die Kollegen kamen mir freundlich entgegen. Gleich am ersten Sonntag lehnte der Inspektor meinen Antrittsbesuch als „chinesische Zeremonie» ab und lud mich zum Abend ein. Ich traf dort auch andere Gaste. Trotz des wahrend des Krieges herrschenden Alkoholverbots gab es den dort reichlich, und ich muβte mithalten. Ich ging darauf ein und muβte, als es mir genug schien, doch noch auf das Wohl der Hausfrau trinken. So kam ich auf viele Schnapse und war am nachsten Tage recht benommen, galt also auf diesem Gebiet als schwach und wurde geschont.

Als Deutscher habe ich auf keiner Seite zu leiden gehabt. Nach Weihnachten trug mir der Direktor den Padagogikunterricht in der obersten Klasse des Madchengymnasiums an; ich hatte unter meinen Promotionsfachern auch Padagogik gehabt. Der Direktor leitete auch die Lehrerkonferenz des Madchengymnasiums. Ich habt unter der schlichten und mutterlichen Leiterin Sawarina gut arbeiten konnen. Zum Kollegium gehorte als Deutschlehrerin Frl. Eleonore Glastr, Tochter des Apothekers, die in hohem Ansehen stand. Vor meinem Antntt erklarte mir der Sohn meiner Hauswirte, die Madchen freuten sich auf meinen Unterricht. Auf meine Frage „Woraufhin?» entgegnete er, dafur hatten die Primaner gesorgt. Das Verhalten der Schulerinnen war einwandfrei, und nach der Abschluβprufung luden sie mich zu einer Gruppenaufnahme ein.

Die interessanteste Kollegin war die Mathematiklehrerin, die jalirelang Rechnerin an der Sternwarte in Pulkowo bei Petrograd gewesen und vielgereist war. Einmal fragte sie mich in Gegenwart des Direktors, ob ich nicht wieder durch das schone Deutschland reisen wolle. Der Direktor meinte dazu, ihm sei sogar ihre dortige Sauberkeit zuwider. Sehr interessant war, daβ die in der russischen Presse viel behandelte deutsche Vorherrschaft sich auch in Ustjug abzeichnete. Auβer dem erwahnten Kollegen Heitmann gab es noch andere Deutsche auf verantwortlichem Posten: so den Prasidenten des Bezirksgerichtes Auer, der aus Petrograd stammte, den Oberstaatsanwalt Rrchtlich aus Jakobstadt in Kurland, verheiratet mit einer Dorpatenserin geb. Wunsch den Chef der Grundbuchabteilung Wilpert, kurlandischer Herkuntt.

In den ersten Februartagen kam meine Frau mit unserer zweijahrigen Tochter Rotraut nach. Ich holte sie von der kleinen 45 Werst von Ustjug entfernten Station Ssawatija ab. Sie waren in Petrograd bei meinem Bruder Otto und in Wjatka, wie erwahnt, von Baron Manteuffel betreut worden. Die Fahrt durch die tiefe Schneelandschaft bei minus 8 Grad war schon, und man meinte, es ware um 0 Grad. Aufregend war der Abstieg auf einer schmalen Spur zur Dwina hinunter. Das Pferd konnte die Kibitka nicht halten, und so ging es in wildem Lauf bis auf das Eis. Zum Gluck kam uns kein Gefahrt entgegen. Ich hatte mir cine Uniformmutze angeschafft, die mein Ansehen in der Offentlichikeit hob, trug aber sonst keine Uniform, was mir mit Zustimmung des Direktors Ausgaben ersparte.

Fur uns drei war der Raum bei Kostjamm zu eng geworden, so wiesen sie uns an ihre deutschen Nachbarn, die Familie Paetz, auf deren Grundstuck ein kleines evangelisches Kirchlein, von ihren Vorfahren erbaut, stand. Sie nahmen uns auf und haben uns in Treue durch diese Jahre geholfen. Die Familie war uber Archangelsk aus Kiel nach Ustjug eingewandert, wo der Vater des Hausherrn schon Burgermeister gewesen war. Der Sohn Arnold besafi aufter dem Hause eine Dampfmuhle und Sagerei, Fastkahne und Schleppdampfer, die auf den Flussen verkehrten, und aufierhalb der Stadt das Gutchen Jeskino. Er war ein fleiβiger, ruhiger Mann, schlicht und zuverlassig. Sein Sohn ging ihm zur Hand und war wahrend der Schiffahrt nur auf dem Wasser. Mittelpunkt des Hauses war die prachtige Frau Bertha geb. Rothers aus Archangelsk, wo sie die deutsche Kirchenschule besucht hatte. — In der Familie wurde meist russisch gesprochen, aber zu Familienfesten wurden deutsche Auffuhrungen veranstaltet, und wenn Frau Paetz mit ihrer Schwester Frau Sebald vierhandig Klavier spielte, zahlten sie den Takt unbedingt deutsch. Auch zu Weihnachten verlief alles deutsch. — Von den vier Tochtern waren zwei mit Vettern Glaser verheiratet, die im Felde waren. Einer von ihnen und die beiden unverheirateten Tochter wohnten im Hause, ebenso ein gelahmter Onkel. — Sie raumten uns ein groβes, durch die Scherwand geteiltes Zimmer ein und im Herbst, als mein Vater zu uns kam, auch das gegenuber liegende zweite Zimmer. Der dritte Bruder, Berend Paetz, leitete die ortliche Abteilung der Bank fur auswartigen Handel und besaβ das Gutchen Ssawino, das anmutig an der Suchona lag. Seine Frau war eine geb. Brown aus Archangelsk, sein Sohn mein Schuler im Gymnasium. Die Schwester der drei Bruder Paetz war mit dem Apotheker i. R. Theodor Glaser verheiratet. Seine drei Sonne waren im Felde, zwei waren Fandwirte, einer Fandmesser. Frau Paetz hatte am Ort ihre beiden Bruder, von denen einer eine Drogerie hatte, der andere Mechaniker war und auch eine Brown zur Frau hatte. Die Schwester von Frau Paetz war mit dem Besitzer einer groβen Bierbrauerei „Nordliche Bavaria», dem Bayern Sebald, verheiratet. Durch Aufnahme in die russische Untertanenschaft war ihm sein Besitz geblieben. Ganz still haben sie manchem deutschen Zivilgefangenen geholfen. Zur Familie gehorte auch ein wohlhabender, anregender Vetter James Paetz.

Deutsche waren auch ein Ingenieur an der Wegebauverwaltung, dessen Tochter Brunhilde hieβ. Zu diesen deutschen Menschen russischer Staatszugehorigkeit kam noch eine bedeutende Anzahl deutscher Zivilgefangener, zu denen wir, besonders nach der Revolution, Beziehungen fanden, vor allem zu dem kurz vor seinem Staatsexamen in Dorpat stehenden Medizinstudenten Konrad Kuhne. Durch ihn lernten wir einen aus Reval geburtigen Moskauer Industriellen Schott kennen. Kuhne hatte eine Ambulanz, eine Revierstube und eine schwedische Rotkreuzschwester als Hilfe, wurde aber auch von Russen konsultiert. So fand sich fur uns ein Weg zu ihm und er kam haufig auch unaufgefordert, um nach unserem Befinden zu fragen. Kuhne war dort fur die Zivilgefangenen die venia practicandi eingeraumt. — So lieβen sich dem Leben manche Reize abgewinnen. Ganz einfach war es ja nicht, man muβte sehr auf der Hut sein, auch manches herunterschlucken, wie sich das etwa bei folgender Situation ergab: Der Direktor hielt in der Aula einen Lichtbildervortrag zum Kriegsthema. Als erstes wurden die Bilder von Wilhelm II. und Franz Joseph, den Kriegsverbrechern, gezeigt, dann die von Generalen, auf deren brutale Gesichter hingewiesen wurde, ferner ein Bild deutscher Soldaten, die vom Kriegsausbruch in Deutschland uberraschte russische Reisende in einem Schweinestall eingesperrt haben und den Hungernden Wurst und Milch zeigen, die sie sich selbst zu Gemute fuhren. Bei einem Bilde deutscher Knegsschiffe hieβ es, sie hatten leider die Neigung, bei der Begegnung mit englischen Schiffen, abzusacken. Aus einer Gruppe von Primanern in meiner Nahe horte ich die Auβerung, sie glaubten, bisher groβere englische als deutsche Verluste festgestellt zu haben. — Ein anderes Mai war im Lehrerzimmer die Rede davon, eine Klosternovize habe das Kloster verlassen, um einen deutschen Zivilgefangenen zu heiraten. Dabei warf der Direktor die Frage auf, ob sie denn nicht wegen Sodomie gerichtlich bestraft werden muβte, denn ein Reichsdeutscher sei doch ein Tier. Am peinlichsten aber wurde es, als der mir sehr freundlich gesinnte Kollege Kostjamin eines Tages hoch erfreut im Lehrerzimmer die Nachricht von einem groβen Sieg am Naroschsee bekanntgab, und obwohl ich keine Miene verzog und schwieg, mich ansah und wortlich erklarte: „Wilhelm Karlowitsch, glaube der Nachricht nicht und lachle nur». Mein Protest half nicht viel, und einige Tage darauf verkundigte er, ich hatte doch recht gehabt: es ware kein Sieg gewesen, sondern eine Niederlage. In solchen Situationen war man einfach wehrlos. Um so hoher rechnete ich es den Kollegen an, daβ von keinem auch nur einmal irgend ein chauvinistisches oder unduldsames Wort mir personlich gegentiber gefallen ist. Der Direktor betonte mir gegenuber den Gentleman. So sagte er mir einmal, nachdem er bei mir im Unterricht gewesen war, er und ich hatten ein Anrecht auf eine Stelle an einer beliebigen hauptstadtischen Schule.

Im Jahr 1916 besuchte der Kurator, Geheimrat Ostroumow, Ustjug. Er kam gleich in der ersten Stunde nach der Andacht, die ich nicht besucht hatte und ihm somit nicht vorgestellt worden war, in meine Horaz-Stunde in der obersten Klasse. Der Direktor wunschte mir lachend mit einem Handedruck einen guten Morgen. Ich bot dem Kurator meinen Text an und gab die Stunde ohne einen solchen. Sie verlief glatt, ich holte auch die schwachsten Schuler heran. Der Vater Kostjamin ubermittelte mir nachher die Anerkennung der Klasse fur meine unabhangige Haltung gegenuber Vorgesetzten. Nach der Abreise des Kurators teilte der Direktor mir mit, dieser habe mir ein Klassenordinariat und somit volle Berechtigung im Amt zugesprochen. Das war doch wieder ein Beweis fur den Januskopf des Direktors: einerseits der Vertreter eines staatlichen Nationalismus, andererseits die Groβzugigkeit des Kulturmenschen. Ich werde davon noch mehr zu berichten haben. Hier sei noch folgendes zu erwahnen: Der liberale Minister fur Volksaufklarung, Graf Ignatiew, setzte Reife- und bis dahin ubliche Versetzungsprufungen aufier Kraft, fuhrte dafur periodisch abzuhaltende Kontrollprufungen unter Assistenz eines zweiten Lehrers ein. Ich erbat mir die Assistenz des Direktors. Dabei passierte folgendes: Der Primaner, dem ich gleieh zu Beginn meiner Tatigkeit die Ubersetzung abgenommen hatte und den ich mehrfach wegen Mangels an Fleiβ gewarnt hatte, versagte vollig. Man merkte ihm an, daβ er die Nacht durchgearbeitet hatte. Ich erreichte beim Direktor, daβ er sich am spaten Nachmittag nach einem grundlichen Schlaf noch einmal melden durfte. Da machte er die Sache ganz leidlich. Einem anderen sehr fleiβigen aber sprachlich wenig begabten Schuler muβte ich stark Hilfestellung geben, wobei der Direktor schlicht fragte, wer denn eigentlich gepruft werde, der Schuler oder der Lehrer, doch meinen Einwand gelten lieβ, wir waren zusammen marschiert und muβten nun auch zusammen schlagen. Besonders nett war aber, daβ ein Schuler, der seinen Text schon prapariert hatte, bat, sein Taschentuch aus seinem Fach holen zu durfen. Die Sache war etwas auffallend und nachher merkte ich aus Aufierungen des alten Kostjamin, der Junge hatte sich eine unerlaubte Hilfe geholt. Es war noch nicht der Schluβ und bei der nachsten Wiederholung fragte ich denselben Primaner, als er an die Reihe kam, ob er sein Taschentuch bei sich hatte. Ererstarrte ein wenig, die Klasse grinste in sich hinein und ich bekam prompt die Zensur, die Sache sehr hubsch bereinigt zu haben. Es waren doch im Grunde ebensolche Menschen wie wir und durch richtige Behandlung mit etwas Humor zu haben.

Ganz merkwurdig war, daβ mir der Direktor einmal in der Prima den Unterricht in der Geschichte Rufilands ubertragen wollte, vielleicht, um das damals schon heiβe Fach auf noch unbelastete Schultern abzuschieben. Auf meinem Einwand, ich sei ja bloβ in der alten Geschichte zu Hause, entgegnete er: Ein guter Lehrer muβte zu jeder Sauce passen, lieβ meinen Protest aber gelten.

Im Fruhling machte ich einen Ausflug zweier Klassen zu Schiff die kleine Dwina abwarts bis Kotlas mit und dann die Wytschegda aufwarts bis Solwytschegodsk, einer alten Salzstadt, Ustjug an Umfang und Bauart ahnhch. Im Sommer 1915 habe ich mit einer Gruppe alterer Schuler auf einem Dorf Familien im Felde stehender Vater bei Erntearbeiten geholfen.

So fuhrten wir am Ort ein durch die Knegsereigmsse wenig beruhrtes Leben, wenn auch Knegstransporte von uns stromaufwarts gingen und ich unter anderem englische Offiziere in voller Uniform in der Stadt gesehen habe. Unsere dreijahrige Tochter begann selbstandiger zu werden. So blieb sie eines Tages vor der Hauptkirche stehen und be kreuzigte sich ganz ernst, wie sie es bei den einfachen Leuten gesehen hatte. — In die weite Welt blickte man mit Sorge, namentlich in die Heimat. Die Ausweisungen nahmen zu. Generalsuperintendent Gaethgens, Propst Marnitz, Pastor Schabert, Propst Rudolf Winkler aus Reval und viele andere traf es. Mein Vater war im Friihling 1916, aus Salis verwiesen, zu seinem Schwiegersohn Masing nach Karkus gegangen und wurde von dort im Fruhsommer uber den Meridian von Nischniy Novgorod verbannt. Nun erwies es sich, daβ meine Voraussetzungen zutreffend gewesen waren, und mein Vater konnte gerade noch zu uns kommen, da Ustjug hart hinter dem festgesetzten Grenzstrich lag. Wir waren schon in den Sommerferien auf dem Gut von Arnold Paetz. Mein Vater traf per Schiff aus Wologda kommend ein. Wir brachten lhn im Dorf in einer sauberen Bauernstube unter. Sein Paβ war ihm abgenommen worden und er stand unter polizeilicher Aufsicht, hatte aber allein und ohne Begleitung reisen durfen und wurde auch nicht weiter kontrolliert. Da wir weder lettiseh noch russisch schreiben wollten und ein deutscher Briefwechsel unter Strafe verboten war, korrespondierte ich mit meiner Mutter franzosisch, mit meinem Vater anfangs lateinisch, bis er von der Behorde die Mitteilung erhielt, wir durften ihr nicht unseretwegen die Anstellung eines Zensors fur lateinische Bnefe zumuten!!!

Frau Paetz erklarte sich bereit, auch meinen Vater in ihrem Hause aufzunehmen. Sehr angenehm war es, daβ meines Vaters Ankunft in die Sommerferien fiel, dazu noch in die Zeit unseres Aufenthalts auβerhalb der Stadt. Ich uberlegte hin und her, wie ich diese Tatsache dem Direktor mitteilen sollte; daβ er sie fruher oder spater durch die Polizei erfahren wurde, stand auβer Zweifel. Da bot sich mir gleich zu Beginn des neuen Schuljahres im August eine Gelegenheit: der Direktor forderte mich auf, ihm bei einem Nachexamen zu assistieren, und bot mir dabei den Posten des Sekretars der Fehrerkonferenz am Madchengymnasium an, der frei geworden war. Fs waren die Konferenzprotokolle zu fuhren, vor allem aber die Jahresberichte und Statistiken zusammenzustellen. Man gewann Einblick in Geschaftsfuhrung und Verwaltungsdienste, so daβ es einen Schritt zu einem leitenden Posten bedeutete und auch eine Gehaltszulage bewirkte. In jedem Falle war es ein Vertrauensposten. Ich ergriff die Gelegenheit, dankte fur das Vertrauen, sagte aber, ich hatte dem Direktor gerade mitteilen wollen, daβ mein Vater wahrend des Sommers aus dem Knegsgebiet verwiesen, zu uns gezogen ware und es so vielleicht fur die Schulleitung unbequem ware, mich jetzt in Petrograd fur diesen Posten in Vorschlag zu bringen. Fr entgegnete, der Sohn konne nicht fur den Vater verantwortlich gemacht werden. Darauf ich: meinem Vater geschehe Unrecht, er habe sich nichts zuschulden kommen Iassen, ich trate bedenkenlos neben ihn. Hierauf er: er glaube es, wo man Wald falle, flogen Spane, was ein Broderich und Manteuffel (gemeint sind Silvio Broderich und Baron Karl Manteuffel-Katzdangen, die seit 1906 deutsche Siedler aus Sud-Rufiland nach Kurland gezogen hatten) verschuldet hatten, dafur muβten jetzt auch Unschuldige leiden. Meine Stellungnahme mache mir alle Ehre, jetzt werde er mich erst recht zu dieser Ernennung vorschlagen. Sie erfolgte umgehend.

So wohnten wir oben im Hause Paetz, sahen durch unsere Fenster den Fluβ und die passierenden Schiffe, rechts das stattliche Knabengymnasium, auf der anderen Seite die aus Holz ohne Turm errichtete evangelische Kirche auf dem Grundstuck von Herrn Paetz, dahinter das sehr bescheidene Madchengymnasium. Gleich neben uns lag der mit hohen Baumen bestandene Stadtpark und ihm gegenuber der Park des Knabengymnasiums.

Wir wurden ganz von Paetzens verpflegt, gehorten zu ihrer Tafelrunde, wurden ganz in den Familienkreis einbezogen, durften unsere nette Agnija vom Sommer mit in die Stadt nehmen, und unsere Rotraut sprach bald mit ihrer Phantasieschwester russisch. Mit der Zeit fing mem Vater an, sonntags eine Hausandacht zu halten, zu der das Ehepaar Sebald sehr regelmafβig kam. Ustjug gehorte zum Betreuungsgebiet von Pastor Konigsfeld in Jaroslawl, der ublicherweise einmal im Jahr hinkam und die Gemeinde betreute. Durch meines Vaters Gegenwart wurde diese Splittergemeinde von diesem bis 1918 versorgt. Beerdigungen vollzogen die Gemeindeglieder selbst. Ich habe mich vor dem Eintreffen meines Vaters zweimal im Dienste der Gemeide betatigen mussen. Das erste Mai, als mich das Ehepaar Paetz bat, ihren Sohn Berend, meinen Schuler am Gymnasium, zur Konfirmation vorzubereiten. Er beherrschte die deutsche Sprache nur durftig, war aber willig. So haben wir uns mehrere Wochen lang mit dem Wesen evangehschen Christen-tums auseinandergesetzt und fanden beim Pastor, der ja ein bescheidenes Niveau gewohnt war, gutige Anerkennung. — Im Herbst 1917, als mein Vater gerade auf einer grofien Reise war, starb Ernst Paetz. Da baten die Bruder mich, die Funktionen des Pastors zu ubernehmen. So habe ich denn an Hand der Agende die Einsargung und auf dem Friedhof des Nonnenklosters Jaikowo auβerhalb der Stadt, wo Paetzens einen Grabplatz besaβen, die Funeralien vollzogen, naturlich in deutscher Sprache. Dabei sang der russische Nonnenchor, und der Priester, der neben mich trat, schwenkte das Weihrauchfaβ. Konfessionelle Enge war dem Volk an sich kaum bekannt. Ich mochte hier folgendes Erlebnis einschalten: Im Lehrerzimmer des Madchengymnasiums kam es einmal in einer Pause zu einem Gesprach uber Martyrertum. Plotzlich wandte sich der Religionslehrer, ein alter schhehter Priester, an mich und sagte, wahre Martyrer seien die lutherischen Pastoren, die fur ihr evangelisches Bekenntnis litten. Das uberraschte mich.

Es fand sich in Ustjug noch ein sehr lieber Verkehr fur uns. Auβerhalb der Stadt, in der Villa einer Offizierswitwe, fandcn wirdurch Dr. Kuhne die Familie Kollner-Jessen. Der deutsche Reichsangehorige Wilhelm Kollner hatte als Landwirt das Gut Schujenpahlen im Kirchspiel Dickeln im Kr. Wolmar, das seinem Studienkameraden Graf Kurt Mellm gehorte, bewirtschaftet und war mit seiner Frau geb. Jessen und einem kleinen Sohn nach Ustjug verschickt worden. Sein Schwiegervater verwaltete das Gut Pockeln im Kirchspiel Allendorf. Dieses gehorte dem Geheimrat Zeise, Leiter der Schichauwerft in Danzig, die eine Zweigstelle in Riga hatte. Daraufhin wurde Jessen aus dem Baltikum verwiesen und kam mit Frau und Mutter nach Ustjug. Bei ihnen sind wir oft und gem gewesen. Mein Vater hat noch den zweiten, dort geborenen Sohn von Kollners getauft. Bei diesem Verkehr muβte ich na-turlich in meiner exponierten Stellung sehr vorsichtig sein, wobei mir manchmal meine Uniform nutzte.

So rann unser personliches Leben ruhig dahin, aber man fuhlte auch hier ein Anwachsen der Spannungen. Die Jugend, vor allem die intellektuelle, wurde wohl im ganzen Russischen Reich von liberalen und zum weitaus groβten Teil von sozialistischen und revolutionaren Ideen beherrscht! Konservative Gesinnung fand sich vor allem im Kreise der hohen Beamtenschaft und des in Ustjug kaum vertretenen Adels und Offizierkorps; Kaufmannschaft und Industrie standen wohl meist rechts, dagegen gait es in Akademikerkreisen, vor allem den Hochschulprofessoren, fast als selbstverstandlich, fortschrittlich demokratisch, freihcitlich gesinnt zu sein. Im kleinen Ustjug spielte sich das alles in engen Grenzen ab, war aber doch zu verfolgen. Am anziehendsten waren mir der rechte Flugel der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionare, Leute, die uneigennutzig dachten.

Unter ihnen waren solche, die etwa als Studenten aus politischen Grunden gemafiregelt worden waren. Wer fur seine politische Uberzeugung und Stellungnahme hatte leiden mussen, auf den fiel von vornherein ein Strahl eines Martyrerscheines. Die Kadetten (konstitutionelle Demokraten) schielten nach links, unter Ruckversicherung nach rechts. Die Partei vom 17. Oktober, die sogenannten Oktabristen, waren gemaβigt konservativ, in Ustjug waren sie kaum vertreten. Organisierte Arbeiterschaft gab es am Ort kaum. Der Krieg gegen Deutschland konnte hier kaum popular sein. Die Deutschen am Ort genossen Ansehen, wie uberhaupt in Ruβland. Doch durch demagogische Maβnahmen aufgehetzt hatte die Bevolkerung von Groβstadten sich stellenweise zu Ausschreitungen gegen die Deutschen hinreiβen lassen. Ohne Frage bestand in den russischen demokratischen Schichten eine Abneigung gegen das monarchistische Deutschland, das deutsche Militar und gegen Wilhelm II. personlich. Gern wurde auch vorgebracht, Bismarck trage die Schuld daran, daβ Ruβlands Balkanwunsche nicht erfullt wurden: Er habe als „ehrlicher Makler» auf dem Berliner Kongreβ 1878 bewuβt Ruβland enttauscht und geschadigt; das sei der Dank, daβ Alexander II. wahrend des deutsch-franzosischen Krieges 1870—1871 seinem Onkel Wilhelm I. gegenuber in wohlwollender Neutralitat Gewehr bei Fuβ gestanden habe. Gewiβ haben sich viele besonnene Menschen beim Ausbruch der Revolution Gedanken gemacht, aber ein sehr groβer Teil frohlockte. Das einfache Volk hoffte auf ein Ende des Krieges, auf I.andzuteilungen, die seit den Agrarunruhen 1905 in den Kopfen herumspukten. Bei der groβen Menge, ja bei vielen Menschen, die Kritik uben konnten, herrschte ein ruhrender naiver Optimismus: Jetzt werde alles gut werden, das Schlechte, Unlautere einfach verschwinden, Verbrechen werde es nicht mehr geben, die russische Revolution habe unblutig begonnen und werde unblutig durchgefuhrt werden; Kerensky, der lichte Vertreter der jungeren Generation, burge dafur, er habe ja auf einem revolutionaren Matrosenmeeting in Kronstadt einen Matrosen umarmt und gekuβt als Zeichen der Versohnung und Verbruderung.

Wir sahen anderes voraus. Als wir einmal derartiges im Gesprach auβerten, fanden wir kein Verstandnis. Der Direktor blickte weiter, und wenn er mir auch einmal erklarte „gemahlen wird es Mehl ergeben», so klang da deutlich durch, daβ er sich damit selbst beruhigen wollte. In einer politischen Versammlung dieser ersten Revolutionstage erklarte uns ein liberaler Redner, jetzt 1917 gebe es in Ruβland keine Untertanen mehr, jetzt sei jeder Mann Hoheitstrager, die Kaiserkrone sei zerbrochen und jedem sei ein Stuck von ihr zugefallen. Einer der ersten Wege fuhrte dieses „freie» Volk in Ustjug zur Spiritusniederlage. Sie wurde gestunnt, es brach ein Schadenfeuer aus, eine Explosion schleuderte einen Riesenkessel durch das Dach auf die Straβe. Menschen, die sich Spiritus holen wollten, gerieten in Brand, blieben bei klirrendem Frost im Schnee liegen und erfroren. Als mein Vater und ich am nachsten Tage vorbeigingen, floβ aus einem Kran, aus dem eine Flamme zungelte, Spiritus. Ein Mann hielt einen an einer langen Stange befestigten Eimer darunter und verteilte das edle Naβ an Liebhaber. Die Katastrophe von gestern storte niemanden. — Es wurden nun die verschiedensten Selbstverwaltungskorperschaften ins Leben gerufen. Zum Leiter der Kreisverwaltung wurde ein aus Kurland stammender lettischer Diplomlandwirt Damberg gewahlt, zum Vorsitzenden des Lehrerverbandes, der alle Schulen des Kreises umfaβte, der Gymnasiallehrer Atabakow, armenischer Herkunft. Es war doch wohl bezeichnend, daβ der Nichtrusse eher zur Fuhrung kam. Um mich nicht irgendwie abzusondern, trat ich dem Lehrerverband bei. Auf den Tagungen wurde viel diskutiert. Es gelang mir recht bald, meines Vaters Paβ von der Polizei zu bekommen. Damit horte seine Uberwachung praktisch auf. Am 27. 4. n. St. 1917 wurde unser Sohn Wilfried geboren. Es war ein kraftiges Kind und wenn er seine Stimme erhob, hieβ es im Wochnerinnenheim „der Deutsche schreit». Am 24. Mai n. St. taufte mein Vater den Jungen im Hause tier Familie Paetz, die reizend an unserem Erleben teilnahm. Die ganze Verwandtschaft und Dr. Kuhne waren eingeladen. Der Tauftext lautete: „So stehet nun fest im Glauben. Seid mannlich und seid stark». Und meine Frau bezeichnete den Tat; als den schonsten ihres Lebens.

Fur den Sommer bot uns der Bankdirektor Paetz sein Sommerhaus an, das nicht weit von der Suchona in der Nahe von Ustjug lag. Wir hatten unsere Agnija als Bedienung mit, denn mit dem Rochen und Backen im groβen Ofen wurde meine Frau nicht allein fertig.

Die Landschaftsbilder stehen mir noch genau vor Augen. Das Haus lag im Walde, in dem Schnepfen und Raben nisteten. Junge Raben hockten manchmal auf dem Gelander unserer Veranda. Morgens wachte ich an sonnigen Tagen oft schon gegen 5 Uhr auf, weil die Sonne so durch das Schindeldach warmte, daβ ich nicht schlafen konnte. Nach 10 Uhr abends war es aber sehr kuhl. Schon waren die hellen Nachte. Wir konnten bis 23 Uhr lesen. — In diesem Sommer 1917 kam mein Bruder Hans fur ein paar Urlaubstage von der Front zu uns. Er war gleich bei Kriegsbeginn als Arzt in die kleine Festung Ossowetz in Westpolen gekommen. Sparer wurde er Regiments- und zuletzt Divisionsarzt. Nach dem Umsturz wurde er als Vertrauensmann der Offiziere in den Rat seiner Division gewahlt. Als mein Bruder nach dem Waffenstillstand bei Brest-Litowsk im Fruhjahr 1918 bei dem Selbstauflosungsprozess der russischen Armee heimkehren wollte, wurde er auf dem Bahnhof in Wilna von deutschen Feldgendarmen angehalten und erst nach Stralsund, von da nach Krefeld in ein Offiziersgefangenenlager gebracht, von wo er erst kurz vor Weihnachten 1918 in sehr unterernahrtem Zustand heimkehrte. — Der Abschied war damals im Sommer 1917 — bei den ungeklarten Verhaltnissen schwer gewesen.

Auf einer Lehrerverbandsversammlung noch vor den Sommerferien war ein Ehrenrat von sieben Gliedern gewahlt worden, der vor allem eventuelle Belastungen von Lehrern aus der Zarenzeit klaren sollte. Wahrend der Zettelwahl trat der Kollege Basilewsky an mich heran und erklarte, ich ware scin erster Kandidat. Zu meiner Oberraschung wurde ich tatsachlich gewahlt. Wir haben nur eine groβe Sache behandelt: Ein Religionslehrer, ein Priester, der einen entschieden guten Eindruck machte, wurde verdachtigt, der Schulaufsichtsbehorde Gutachten uber seine Kollegen geliefert zu haben.

Im Spatsommer 1917 trat von seiten der deutschen Zivilgefangenen, deren Lage sich gelockert hatte, an meinen Vater die Bitte heran, sie zwecks geistlicher Bedienung in den benachbarten Stadten und Dorfern zu besuchen. In Ustjug hielt er ja, seit er seinen Paβ wieder hatte, fast regelmafug Gottesdicnste, die auch von den Zivilgefangenen gut besucht wurden. Jetzt kam es zu einer Rundreise von Ende Juli bis Ende September. Er wurde von Dr. Canus, Eelirer an der deutschen Schule in Bukarest, begleitet, den der Kriegsausbruch wahrend einer Ferienreise im Kaukasus uberrascht hatte. Sie kamen bei der Reise die Wytschegda aufwarts bis Solwytschegodsk. Diese Reise hat meinen Vater sehr interessiert: Natur, Menschen, wirtschaftliche und soziale Verhaltnisse, das Verhalten der Einwohner zu den Deutschen, alles fesselte ihn. In Ruβland gab es damals noch keine Standesamter, sondern nur kirchliche Trauungen. So gab es unter den Zivilgefangenen viele ungetraute Ehen und ungetaufte Kinder. Er vollzog Trauungen und Taufen und hielt Abendmahl und Gottesdienste in offentlichen Schulen, die zur Verfugung gestellt wurden. Einmal hat ein Priester mit Abendmahlswein ausgeholfen. Boswilliger und unduldsamer Chauvinismus ist meinem Vater nicht begegnet. Ich hatte den Eindruck, daβ die orthodoxe Kirche tins Protestanten naher stand als den Katholiken. So gab mir der Oberpriester der Hauptkirche bei einer Ostervisite den Osterkuβ, denn ich sei ja ein Lutheraner und kein Katholik. Ein ausfuhrlicher Bericht meines Vaters uber seine Reise ging uber die schwedische Gesandtschaft an das Auswartige Amt in Berlin, und er bekam dafur einen Dank.

Im Sommer 1917 heiratete Dr. Kuhne seine orthodoxe Braut aus Petrograd. Ein Priester vollzog die Training, wobei wir beiden Protestanten, der Industrielle Schott und ich, als Zeugen uber dem Brautpaar Kronen hielten. Am Nachmittag segnete mein Vater das junge Paar in ihrer Wohnung ein. Nach vielen Jahren, nach dem Tod seiner Frau, sagte mir Dr. Kuhne, der Segen, den mein Vater lhnen gegeben habe, hatte bis ans Ende gehalten. — Als Kuhnes Ustjug noch vor uns verlieβen, rief er uns aus dem Schlitten als Abschiedsgrufi zu: „Sie waren ein heller Stern in dunkler Zeit!»

Unsere Familie war auf funf Personen angewachsen und ergab eine zu schwere Belastung fur das Haus Paetz. So ergriffen wir eine Gelegenheit und mieteten eine eigene 3-Zimmerwohnung. Um mit allem fertig zu werden, die beiden kleinen Kinder zu versorgen, die Wasche zu waschen und auch im Winter — dann im Eisloch — im Fluβ zu spulen, die Badstube zu heizen usw., muβten wir ein zweites nettes Madchen aus dem Dorf annehmen. Die Mobel bekamen wir teils von der Hausbesitzerin, teils von Paetzens. Obgleich die Wohnung sauber war, gab es darin doch die groβen schwarzen Kakerlaken. In diesem Sommer bin ich auf Baron Manteuffels Einladung eine Woche bei ihm in Wjatka gewesen. Ich fuhr zu Schiff die Suchona abwarts bis Kotlas und dann mit tier Balm nach Wjatka. — Am Hafen von Kotlas gab es regen Verkehr. Dabei fielen mir gutgewachsene Arbeiter auf, die sich als Perser erwiesen. In Wjatka besuchte ich auch Pastor Paul Neander, der dort Gefangnisinspektor war, und lernte seine kleine Tochter Irene kennen. Er ist wahrend der Revolution auf der Straβe ermordet worden. — Die politische Lage spitzte sich weiter zu. Die Miβerfolge an der Front, die Kriegsmudigkeit, erweckten uberall eine steigende Unzufriedenheit. Der Thronverzicht Nikolaus II. und der Verzicht des Bruders Michail auf die Nachfolge hatten zur Folge, daβ es zu einer demokratischen Regierung kam. Alle Hoffnungen richteten sich auf den Sozialdemokraten Kerensky, der aber von dem radikalen Flugel unter Fuhrung von Lenin und Trotzky ausgeschaltet wurde.

Es war also eine erregte Welt, in der wir damals lebten. Dennoch verrichtete der Durchschnittsburger seine Arbeit weiter. Und im abgelegenen Ustjug ging auch das Schulleben seinen Gang. Einmal muβte die Schule in einer politischen Volksversammlung auf dem Platz vor der Kathedrale antreten. Alle Lehrer und Schuler waren mit roten Schleifen geschmuckt. Die franzosische Lehrerin sah, daβ ich keine trug und bot mir besorgt eine an, auch der Direktor riet dazu. Ich lehnte ab, sie schiene mir zu blutig. Die anderen warnten, aber mir geschah nichts. Um Weihnachten fand eine allgemeine Lehrerversammlung des Kreises statt, ein neuer Vorstand von sieben Gliedern wurde gewahlt. Ich befand mich unter den sieben. Als der Vorstand sich konstituierte, lehnten sowohl der Kollege Basilewsky als auch der neu gewahlte Schulrat den Vorsitz ab. Darauf wurde er mir angetragen. Mir schien es zum Lachen. Ich erwahnte, die anderen waren alle Sozialdemokraten oder Sozialrevolutionare, ich dagegen stunde noch weiter rechts als die Kadetten. Wie sollte ich sie da vertreten? Darauf die Gegenfrage: ob ich denn nicht bereit ware, mit ihnen zu arbeiten? Dazu war ich gewiβ bereit. Also wurde ich einstimmig gewahlt und lieβ mich uberrumpeln. Daβ ich damit einen heiβen Boden betrat, wurde mir erst spater klar. Bei meiner Abreise meinte der Direktor, es ware gut, daβ ich wegginge. In diesem Ann hatte ich mir noch die Finger verbrennen konnen!!

Doch ich denke nicht ungern an dieses halbe Jahr zuruck. Im Vorstand ergab sich ein reibungsloses Zusammenarbeiten. Ich hatte die Vorstandssitzungen zu leiten, die laufenden Geschafte zu fuhren, gelegentliche Berichte fur die Presse abzufassen und lernte dabei manches. Bei meinem Abschied bedauerte es die Kassenfuhrerin, es habe sich mit mir gut zusammenarbeiten lassen. — Das Lehrerkollegium am Gymnasium wahrte im allgemeinen seine Haltung. Aber der noch jungere Mathematiklehrer, ein Arbeitersohn, veranlafite eines Tages eine Versammlung der Kollegen in einer Privatwohnung ohne den Direktor und regte eine Aktion zu dessen Absetzung an. Er begrundete seinen Vorschlag damit, der Direktor ware konservativ, ja reaktionar und unterdrucke vor allem die freie Personlichkeit seiner Lehrer. Wohl behandelte der Direktor jungere Lehrer etwas von oben herab, aber ein bewuβtes Unterdrucken der Personlichkeit habe ich nicht beobachtet. Ein Kollege fragte, ob der Direktor auch mich unter Druck genommen habe und als der Angeredete es verneinte, erklarte derselbe, es kame daher, daβ ich am ersten Tage dem Direktor widersprochen habe. Ein Vorgehen des Kollegiums gegen den Direktor wurde abgelehnt. Die Schule arbeitete weiter, aber mit der Zeit spurte man doch die Unruhe der Verhaltnisse. Ich hatte auch darunter zu leiden, nicht ohne eigene Schuld, da ich mich den veranderten Verhaltnissen nicht anpafite.

In meiner Klasse machten zwei Schuler nicht mit, befaβten sich in der Stunde mit anderen Dingen. Ein „ungenugend» auf der Zensur wurde mit Protest aufgenommen. Die Klasse unterstutzte sie und verlieβ den Raum. Sie hatten mich eigentlich einsperren wollen. — In einem anderen Fall weigerte sich die Klasse, eine von mir angesetzte Vertretungsstunde mitzumachen, da fur den Tag nur eine Lateinstunde vorgesehen ware. Als ich fortging, streifte mich ein mir nachgeworfenes Stuck Kreide. — Ich fand bei der Schulleitung keine Unterstutzung und stellte meine Arbeit ein. Mit Hilfe der Lehrerkonferenz und unter Heranziehung der Eltern- und Schulervertretung, kam es zu einer Entschuldigung der Klasse und des Werfers der Kreide. Der Vater hatte ihm den Kinobesueh untersagt, da ich auf seine Anfrage hin gesagt hatte, des Sohnes Leistungen waren mangelhaft. — Doch die beiden Hauptschuldigen kamen nicht entgegen. Da sprang der Kollege Basilewsky ein, ubernahm meine Klasse und trat mir seine angenehme hohere Klasse ab. Die Primaner hielten zu mir.

Des Direktors Stellung wurde schwierig. Um sie zu festigen, wurde eine allgemeine Elternversammlung einberufen. Die Stimmung war gespannt. Den besonnenen Elementen gelang es, ein Vertrauensvotum fur den Direktor durchzusetzen. Er dankte dafur, indem er nach orientahscher Sitte niederkniete und sich verbeugend mit der Stirn den Fuβboden beruhrte. Die Szene wirkte peinlich, dabei war nicht daran zu zweifeln, daβ die neuen Machthaber Neubesetzungen und durchgreifende Neuerungen auf allen Lebensgebieten, auch denen der Erziehung, vornehmen wurden. Die Revolution sollte ja andauernd vertieft werden. Das vergrofierte das Unbehagen.

Der Leiter der Grundbuchabteilung am Bezirksgericht Wilpert sagte mir zum Abschied, ich muβte doch erkennen, daβ die Russen tolerante und gutartige Menschen waren, da mir in Ustjug viel freundliches Wohlwollen begegnet sei. So hatte der Direktor nach der Geburt unseres Sohnes, von der ich ihm nichts mitgeteilt hatte, von sich aus eme Beihilfe von 150 Rub. bei der Regierung bewirkt. — Beim Aufbruch zum Schiff begleiteten uns unsere beiden Magde, urn „Wilfriduschko» noch einmal tragen zu durfen. Vor der Haustur uberraschte uns ein junges Brautpaar aus einer estnischen Siedlung in grofierer Entfernung von Ustjug. Die hatten gehort, daβ da ein evangelischer Pastor ware, und baten meinen Vater, sie zu trauen. Die Zeit reichte dazu nicht mehr, wir muβten aufs Schiff gehen. Mein Vater schlug ihnen vor, bis zur nachsten Haltestelle mitzufahren. Sein Estnisch reichte nicht zurfreien Ansprache, doch das Trauvokabular beherrschte er. So traute er sie in einer groβeren Kabine mit einem reichsdeutschen Herrn und mir als Zeugen, fertigte ihnen die Bescheinigung an den Pastor in Jaroslawl aus, auf die hin sie die Heiratsurkunde bekommen sollten, und entlieβ das tiefbefriedigte Paar am nachsten Anlegeplatz.

Es war an sich eine schone Reise auf dem komfortablen Schiff, die Suchona aufwarts bis Wologda, an hohen z. T. bewaldeten Ufern entlang. In Tojma sahen wir turkische Kriegsgefangene und es wurde erzahlt, daβ beim Bau der Murmanskbahn besonders viele osterreichische Kriegsgefangene umgekommen waren. — Beim Umsteigen vom Schiff zur Bahn in Wologda halfen uns die mitreisenden deutschen Zivilgefangenen. Nach Petrograd gelangten wir glatt. Wir fanden eine Unterkunft im Massenquartier der deutschen Annen-Kirchen-Schule. Ein Rucktransport von Balten war eingeleitet, die Liste schon eingereicht. Baron Meyendorff lieβ fur uns eine Nachtragsliste bei der Sowjetregierung einreichen und ermoglichte uns so die Weiterreise nach einem kurzen Aufenthalt. Eigenartig war es, hier am Gebaude der deutschen Kommission eine schwarz-weiβ-rote Fahne zu sehen und in den Straβen heimkehrenden deutschen Knegsgefangenen in Uniform zu begegnen. Die Lebensmittel waren in Petrograd schon sehr knapp. So konnte die Witwe des Admirals Jessen uns nur dunne Platzchen, aus Kartoffelschalen mit etwas Mehl gebacken, anbieten, und wir hatten gerne manchem, so dem Direktor Igel von der Annenschule, mit Brot geholfen, das wir doch zur Weiterreise brauchten. Etwas davon hinterlieβen wir meinem Bruder Otto, der sich zur Mitreise leider noch nicht entschlieβen konnte und hoffte, noch manchen helfen zu konnen. Als er im Dezember die Grenze passieren wollte, wurde er von lettischen Rotgardisten als Solm seines Vaters erkannt und verhaftet nach Petrograd geschickt, wo er im Dezember 1918 im Gefangnislazarett gestorben ist. Mein Vetter kam noch rechtzeitig uber die Grenze. — Aufregend war die Fahrt zum Baltischen Bahnhof. Der uberfullte Straβenbahnwagen fuhr an, als erst unsere vierjahrige Tochter eingestiegen war. Eine mitfahrende Dame, die die Lage ubersah, rief uns zu, sie nehme das Kind bis zum Bahnhof mit, wo wir die Kleine wiederfanden. In einem Guterwagen kamen wir noch an demselben Tage, von russischen Soldaten begleitet, mit einem Baron Kaulbars als Transportfuhrer uber Toroschino, dem russischen Grenzpunkt vor Pltskau, das von den Deutschen besetzt war, uber die De-markationslinie. Mitten auf der Strecke hielt der Zug, und zwei deutsche Offiziere erschienen. Wir atmeten auf! In Pleskau war der Bahnhof mit Girlanden und einem „Willkommen» geschmckt. Am nachsten Tage ging es ohne Aufenthalt bis Wolmar und von dort in meines Vaters Pastorat Salis weiter — wir waren zu Hause!!

Die Heimkehr fuhrte noch nicht in den Frieden, — mich freilich in die Schularbeit, doch auch zur Landeswehr — meinen Vater in den Martyrertod.

Alles mi Dienste der Heimat!